Dunkelheit zieht über den Straßen der Stadt herauf, die Geschäfte schließen, Ruhe kehrt ein. Doch dort! Eine Gruppe von Menschen erkundet die Stadt, angeführt von einem Mann im langen, schwarzen Gewand. In einer Hand hält er eine Laterne, in der anderen eine Hellbarde. Es ist kein anderer als Werner Kuloge, Nachtwächter in Lemgo und Detmold. Die von ihm geführten Touren sind immer ein Erlebnis, machen Geschichte und Geschehen lebendig. Für uns hat er ein paar Fragen beantwortet.
Wie sind Sie dazu gekommen, Nachtwächter zu werden?
Ursprünglich bin ich gelernter Wirtschaftsmathematiker und habe etwa 10 Jahre lang im Controlling von Textilhandelsunternehmen (Filial- und Versandhandel) gearbeitet. Aus verschiedenen Gründen wollte ich aber etwas tun, was mir persönlich sinnvoller (wenngleich finanziell weniger lukrativ) erschien. Zwinkert. Der Cousin meiner Frau betrieb damals in München eine Fahrradrikscha, was mich auf die Idee brachte, so etwas auch in Lemgo zu etablieren. Ein guter Freund meinte, dafür müsse ich mich gut in der Stadtgeschichte auskennen. So machte ich dann weitestgehend autodidaktisch 2005 eine „Lehre“ zum Stadtführer. In dieser Zeit nahm ich auch an einem Rundgang der damaligen Mindener Nachtwächterin Helga Simon teil.
Und mit diesen Inspirationen Sind Sie dann Lemgos erster Nachtwächter geworden?
Genau. Da es bis dahin in Lemgo noch keinen (touristischen) Nachtwächter gegeben hatte, nahm ich diese Rolle neben allgemeinen und thematischen Stadtführungen sowie Museumsführungen mit ins Angebot auf. Der erste Lemgoer Nachtwächterrundgang fand am 1. April 2006 statt. Zwei Jahre später, am 3. April 2008, gab es dann die Blomberger Premiere. Seitdem sind die Nachtwächterrundgänge regelmäßig meine am stärksten nachgefragten Führungen. Darunter wiederum nehmen die Rundgänge zu „schaurigen Orten“ in Lemgo eine Spitzenposition ein.
Gab es für Sie auch Schwierigkeiten mit dem Wechsel vom Controlling-Job zum Nachtwächter?
Mit meinem Berufswechsel war auch eine Art Rollentausch verbunden. Meine Frau ist mit Leib und Seele Grundschullehrerin und musste ihren Stellenanteil aufstocken, während ich maßgeblich Tätigkeiten im Haushalt übernahm. Daher war das eine Entscheidung, die wir gemeinsam als Ehepaar treffen mussten. Ich bin meiner Frau Andrea sehr dankbar, dass sie mich auf dem eingeschlagenen Weg von Anfang an unterstützt hat und darin auch heute noch voll hinter mir steht.
Was macht Ihnen an der Aufgabe des Nachtwächters Spaß?
Lemgo ist eine faszinierende Stadt und hat eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich interessante Geschichte. Als „Beutelipper“, der vor 30 Jahren zugezogen ist, ist mir das vielleicht sogar noch bewusster als manch einem Einheimischen. Dieses Phänomen gibt es aber erfahrungsgemäß überall: Dort, wo man möglicherweise schon sein ganzes Leben verbracht hat, ist es halt so, wie es ist. Dafür schaut man sich im Urlaub oft alles ganz genau an – und kennt sich dann am jeweiligen Urlaubsort fast besser aus als zuhause.
Vor diesem Hintergrund macht es mir besonderen Spaß, nicht nur Touristen sondern auch Einheimischen Lemgos Geschichte zu vermitteln – und dies auf möglichst unterhaltsame Art und Weise. Beim Nachtwächterrundgang habe ich zudem dadurch, dass ich in eine Rolle hineinschlüpfe, besondere Freiheiten in der Gestaltung. So treffen sich hier im Sinne eines „Histotainment“ Unterhaltung und Wissensvermittlung.
Sind die Gruppen, die Sie führen, dabei sehr verschieden?
Ja, definitiv. Jede Gruppe „tickt“ anders, was bei jeder Runde eine Herausforderung im positiven Sinne ist. Langweilig wird es aber auch schon allein dadurch nicht, dass sich verschiedenste Themenbereiche bespielen lassen: vom Mittelalter bis zur Hexenverfolgung, von der Reformation bis zum faszinierenden Leben Engelbert Kaempfers gehen die Variationsmöglichkeiten nie aus. Zudem reicht die Altersspanne vom Kindergarten bis zur Seniorengruppe.
Wenn dann die Gruppe am Ende der Führung noch zurückmeldet, dass sie eine gute Zeit gehabt hat, könnte es nicht besser sein. Lächelt zufrieden.
Gab es ein besonderes oder kurioses Ereignis bei all den Führungen?
Da gab es durchaus schon das eine oder andere. Zwei Begebenheiten möchte ich gerne herausgreifen.
Nachtwächter hatten ja zu früheren Zeiten des Nachts für Ordnung zu sorgen, was ich gut in die Rolle einfließen lassen kann. Einmal wurde daraus aber fast bitterer Ernst, als eine deutlich angetrunkene Dame auf dem fast leeren Lemgoer Marktplatz auf mich zukam und mir laut krakeelend meine Hellebarde entreißen wollte. Da musste ich dann doch per moderner Kommunikation die reale Exekutive zu Hilfe rufen. Bis zum Eintreffen derselben dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. Zum Glück wurde aber niemand verletzt.
Zum Glück! Und das zweite Ereignis, das Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben ist?
Ein Ereignis, an das ich mich besonders gerne erinnere, ist, dass ich anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft 2018 im Auftrag der Alten Hansestadt Lemgo in Stendal einen Nachtwächterrundgang durchführen durfte. Das war besonders herausfordernd, da ich zuvor noch nie in Stendal zu Gast war und die Runde nur mittels Literatur und Kartenmaterial „am Reißbrett“ planen konnte und ich vor Ort keine Möglichkeit für eine Generalprobe hatte. Letzten Endes gibt es aber viele (historische) Parallelen zwischen beiden Städten, was dann mit zu einem guten Gelingen der Runde beitrug.
[hier könnte man per QR-Code auf den Artikel verlinken: https://www.az-online.de/altmark/stendal/echte-partnerschaft-distanz-10352263.html]
Gibt es etwas, das Sie an der Stadtgeschichte von Lemgo oder Blomberg noch nicht wussten – und was zu einem Aha-Effekt geführt hat?
Oh ja, da gibt es einiges – und ich betone gerne, dass ich selbst bei fast jeder Führung von den Gästen immer noch etwas Neues hinzulerne.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir, dass mich einmal jemand auf einem Nachtwächterrundgang durch Lemgo fragte: „Wussten Sie eigentlich, dass in Lemgo der linke und rechte Schuh erfunden worden ist?“ Das wusste ich bis dahin nicht und habe dann anschließend etwas recherchiert. Des Rätsels Lösung: Carl Benscheidt, der später in Alfeld an der Leine maßgeblich am Bau der Fagus-Werke durch Walter Gropius und die Künstler des Bauhauses beteiligt sein sollte, fertigte 1882 in Lemgo sein erstes Paar Leisten. Bis dahin wurden hier immer der linke und rechte Schuh über denselben Leisten geschlagen, was zu deutlichen Fußschmerzen führen konnte, wenn man nicht beide Schuhe fortwährend zwischen den Füßen tauschte.
Sie haben eben schon erwähnt, dass Sie auch weitere besondere Führungen anbieten.
Zusammen mit dem Krimiautor Christian Jaschinski biete ich die sogenannten kriminellen Spaziergänge „Mörderisches Lemgo“ an. Die sind eine spannende Mischung zwischen Autorenlesung und Stadtführung: Während Christian aus seinem Buch „Mörderisches Lipperland“ liest, das gleichzeitig Lipperland-Führer ist, erzähle ich von tatsächlichen historischen Kriminalfällen.
Außerdem mache ich Segway-Touren in und um Lemgo. Vor einigen Jahren bat mich der Oeynhauser Segway-Betreiber Frank Korfsmeier, eine Lemgo-Tour auszuarbeiten. Diese beginnt und endet am Regenstorplatz und dauert inklusive kompetenter Einführung in das Fahren mit dem Segway drei Stunden. Auf der Runde geht es vor allem um den Fahrspaß. Ich bin aber auch als Gästeführer mit von der Partie. So kann ich dann einmal meine Ausführungen etwas über den historischen Stadtkern hinaus ausdehnen. Beispielsweise lässt sich wunderbar zeigen, was das Schloss Brake, das Junkerhaus und das Hexenbürgermeisterhaus verbindet.
Mit Ihren Führungen machen Sie Geschichte lebendig und bringen sie Einheimischen wie Touristen näher. Dabei geht es natürlich nicht nur um schöne Themen.
Als Vermittler von Geschichte sehe ich mich in der Pflicht, darzulegen, was wir aus der Geschichte lernen können oder sogar müssen, damit sich bestimmte Dinge nicht so oder ähnlich ereignen, wie es schon einmal der Fall war. Beispielhaft wird das beim Themenrundgang zum jüdischen Leben in Lemgo greifbar. Auch dafür ist meine Arbeit wichtig.
Vielen Dank für Ihre interessanten Einblicke in Ihren spannenden Beruf, Werner Kuloge!
Alle Termine der Führungen und Rundgänge finden Sie unter www.lemgotour.de